Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung – eine rechtliche Einordnung

17.11.2017

Ein Bericht von Frances Fuhr mit Buchempfehlungen aus der Fachbibliothek von Gérard Leitz.

 

Tibetische Weisheit

Wenn ein Kind verspottet wird,
lernt es schüchtern zu sein.
Wenn ein Kind beschämt wird,
lernt es sich schuldig zu fühlen.
Wenn ein Kind verstanden wird und toleriert wird,
lernt es geduldig zu sein.
Wenn ein Kind ermutigt wird,
lernt es sich selbst zu schätzen.
Wenn ein Kind gerecht behandelt wird,
lernt es gerecht zu sein.

 

Der Begriff des Kindeswohls und der Kindeswohlgefährdung ist im Bereich der sozialpädagogischen Arbeit ein omnipräsenter Begriff.

Seit dem Inkrafttreten des deutschen Grundgesetzes im Jahr 1949 ist im Artikel 6 Absatz 2 die Pflege und Erziehung eines Kindes als oberstes Recht und ebenso als Pflicht der Eltern verankert.

Trotz dieser Zuschreibung behält sich der Staat vor, über die Ausübung der elterlichen Pflege und Erziehung zu wachen.*1 Jedoch hat sich diese staatliche Überwachung mit den Jahren stark verändert. Aktuell ist die Ausübung der elterlichen Sorge im §1627 BGB wie folgt festgeschrieben.

Die Eltern haben die elterliche Sorge in eigener Verantwortung und in gegenseitigem Einvernehmen zum Wohl des Kindes auszuüben. Bei Meinungsverschiedenheiten müssen sie versuchen, sich zu einigen.*2

Bis 1958 besaß laut Gesetz lediglich der Vater die „elterliche Gewalt“, Entscheidungen für das Kind und deren Vermögen zu treffen. Danach erweiterte sich die Zuständigkeit vom Vater auf die Eltern und erstmals wird in diesem Paragraphen das Wohl des Kindes erwähnt. Erst ab 1980 wurde die elterliche Gewalt in elterliche Sorge umformuliert.*3 Beachtlicher jedoch ist die Jahreszahl, in der das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung im Gesetz verankert wurde. Erst zur Jahrtausendwende entstand die heute gültige Formulierung des zweiten Absatzes des § 1631 des BGB.

(2) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.*4

Ursprünglich war es dem Vater ausdrücklich gesetzlich erlaubt, „angemessene Zuchtmittel gegen das Kind“*5 anzuwenden. Es bestand für ihn zusätzlich die Möglichkeit, einen Antrag an das Vormundschaftsgericht auf Unterstützung zur Anwendung geeigneter Zuchtmittel zu stellen.*6

Erst im Jahr 1980 wurden entwürdigende Erziehungsmaßnahmen für unzulässig erklärt*7, wobei nicht explizit beschrieben wurde, welche Maßnahmen dies beinhaltet. Erst 18 Jahre später änderte sich zunehmend der Wortlaut von körperlichen und seelischen Misshandlungen bis hin zu der heutigen Fassung.*8

Um den Schutz des Kindeswohls vermehrt zu sichern, haben sich mittlerweile alle Staaten, mit Ausnahme der Vereinigten Staaten und Somalia, in Form der UN- Kinderrechtskonvention dazu verpflichtet, die dort verankerten Rechte des Kindes zu schützen.*9 Gleich der 3. Artikel der UN- Kinderrechtskonvention trägt den Titel Wohl des Kindes und beschreibt zum einen, dass dieses vorrangige Berücksichtigung bedarf und zum anderen die Verpflichtung und Verantwortung aller, erzieherische und fürsorgliche Handlungen danach auszurichten.*10 Zusätzlich beschreibt der Artikel 18 die Verantwortung der Vertragsstaaten, das Kindeswohl stets als ihr Grundanliegen zu betrachten.*11

Trotz der gesetzlichen Grundlagen und der wörtlichen Erwähnung des Begriffes Kindeswohl steht an keiner Stelle eine präzise Definition, welche Handlungen das Kindeswohl ausmachen bzw. es gewährleisten. Deshalb handelt es sich bei dem Begriff Kindeswohl um einen unbestimmten Rechtsbegriff und bedarf immer einer Interpretation im Einzelfall. Dazu bedienen sich die Rechtsanwender unter anderem folgender Kriterien: die Gestaltung der familiären Beziehungen, die inneren Bindungen des Kindes und die Beachtung des Kindeswillen, die Kontinuität und Stabilität der Erziehungsverhältnisse, sowie die positiven Beziehungen zu beiden Elternteilen.*12

Um diese einzuschätzen, finden Anwälte und Richter in außerjuristischen Erkenntnissen zum Beispiel aus der Medizin oder den Sozialwissenschaften unterstützende Hilfe. Eine wichtige Basis bildet hierzu unter anderem das Wissen über die Grundbedürfnisse von Kindern und deren Entwicklung.

Bereits 1943 veröffentliche der amerikanische Psychologe Abraham Maslow seine ersten Ideen zu den Hierarchien menschlicher Bedürfnisse. Daraus entwickelte er eine Bedürfnispyramide, die als Stufenmodell die fünf Grundbedürfnisse (Grund- und Existenzbedürfnisse, Sicherheit, Sozialbedürfnis, Anerkennung und Wertschätzung und Selbstverwirklichung) des Menschen beschreibt. Wobei ihre Wichtigkeit für den Menschen von unten nach oben hin abnimmt. Die Basisstufen der Pyramide sichern das Überleben und die höheren Stufen begünstigen Zufriedenheit und Wohlergehen.*13 Auf Grundlagen seiner Theorien und Erkenntnisse wurden die beschriebenen Bedürfnisse präzisiert und erweitert. Auch im Bereich der Entwicklungspsychologie wurden mit den Jahren Theorien speziell zu den Bedürfnissen von Kindern entwickelt. An dieser Stelle werden die Ergebnisse von den Amerikanern Thomas Berry Brazelton und Stanley I. Greenspan vorgestellt. Beide sind erfahrene Kinderärzte und renommierte Fachleute in der Entwicklungspsychologie und Säuglingsforschung und haben 2002 gemeinsam das Buch “Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern. Was jedes Kind braucht, um gesund aufzuwachsen, gut zu lernen und glücklich zu sein” publiziert. Darin definieren und beschreiben sie folgende Grundbedürfnisse:*14

• „beständige liebevolle Beziehungen“;
• „körperliche Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation“;
• „Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind“;
• „entwicklungsgerechte Erfahrungen“;
• „Grenzen und Strukturen“;
• „stabile, unterstützende Gemeinschaften“ und „kulturelle Kontinuität“;
• ein globales Verantwortungsbewusstsein, das auch die Kinder in armen Ländern einbezieht.

Trotz wissenschaftlicher Erkenntnisse gibt es auch in den Sozialwissenschaften keine allgemeingültige Definition für den Begriff des Kindeswohls. Es ist eine Orientierung an den Rechten von Kindern und deren Bedürfnissen notwendig. Zusätzlich werden häufig negative Bedingungen, unter denen das Kindeswohl auf keinen Fall gesichert ist, angegeben, um die Situationen einschätzen zu können. Hierzu gibt es auch folgende Rechtsprechung vom Bundesgerichtshof, laut derer es sich um eine Kindeswohlgefährdung handelt, wenn „eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr (besteht), dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“.*15

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass jeder Anhaltspunkt im Gesamtkontext gesehen werden muss und jeder Fall erneut, unvoreingenommen und individuell behandelt werden sollte.

„Jede Kindeswohl-Diskussion hat es mit dem Dilemma unbestimmter Rechtsbegriffe und relativer Wertsetzungen zu tun, [….] Kindeswohl ist nur über Kommunikation bestimmbar“.
(Reinhart Wolff; Dormagener Kinderschutzkonzept)

 


Tipps aus der Fachbibliothek von Gérard Leitz:

 

An dieser Stelle lädt Euch Frances Fuhr ein, den Kurzfilm „Niemals Gewalt“ von David Aufdembrinke anzuschauen. Nach einer Erzählung von Astrid Lindgren und produziert von der DAGO Kinderlobby e.V.:

https://www.youtube.com/watch?v=A4zO1yVvLJM

 

 

 

 

 

 

Buchempfehlungen zum Thema Kinderrechte, die wir im Fachjournal besprochen haben, findet Ihr hier:

http://socius.diebildungspartner.de/kinderrechte-buecher-zum-thema/

 

 

 

„Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern“ von T. Berry Brazelton und Stanley I. Greenspan. Erschienen bei Beltz.

„Dieses Buch haben Amerikas anerkannteste Experten für eine gesunde Entwicklung von Kindern gemeinsam geschrieben: Der Kinderarzt T. Berry Brazelton und der Kinderpsychiater und Psychoanalytiker Stanley I. Greenspan. Beide verständigen sich im Dialog darauf, was jedes Kind in seinen ersten fünf bis sieben Jahren unbedingt braucht.“

 

 

 

 

„Kleine Helden – starke Typen. Geschichten, die stark machen“ von Angelika Bartram und Jan-Uwe Rogge. Erschienen bei rororo.

„Als Jana und Jonas ihr kleines Holzboot zu Wasser lassen, möchten sie am liebsten gleich selbst auf große Fahrt gehen. Aber wie sollen sie die Stärke finden, um den vielen unbekannten Gefahren zu trotzen? Zum Glück taucht der Weise Jau Jau auf und hilft den beiden, das Geheimnis der Stärke zu lüften. Er erzählt ihnen viele Geschichten, und alle seine Helden geben den Kindern ein ganz besonderes Puzzlestück. Am Ende erkennen Jana und Jonas, dass die Stärke in ihnen selbst liegt.“

 

 

„Armes Kind – starkes Kind?“ von Margherita Zander. Erschienen im Verlag für Sozialwissenschaften.

„Das Buch bietet einen fundierten Einblick in die international viel diskutierte und neuerdings auch in Deutschland lebhaft verfolgte Resilienzforschung. ‚Resilienz‘ bedeutet ‚seelische Widerstandsfähigkeit‘ in belasteten und risikobehafteten Lebenssituationen. Aufwachsen in Armut ist ein zentrales Entwicklungsrisiko für Kinder.

Wichtigste Erkenntnis ist, dass ‚Resilienz‘ durch pädagogisches und sozialpädagogisches Handeln gefördert werden kann. Bisher fehlte jedoch eine theoretisch fundierte Begründung und eine substanzielle fachliche Erörterung, wie sich das Resilienzkonzept für Kinder und Familien in Armutslagen übertragen und anwenden lässt. Diese Lücke schließt das Buch.“

 

„Zusammenarbeit mit Eltern – interkulturell“ von Elke Schlösser. Erschienen bei Ökotopia. „Elternarbeit wird von ErzieherInnen und PädagogInnen oft als notwendiges Übel empfunden, und Zuwanderer-Familien scheinen dabei meist ein besonderes “Problem” darzustellen. Dass Elternarbeit auch konstruktive Zusammenarbeit bedeuten kann, beweist das vorliegende Buch.

Die Autorin zeigt kreative Wege auf, die Kooperation mit allen Eltern zu initiieren und fruchtbar werden zu lassen. Zugewanderte Eltern werden hier als Menschen mit besonderen Erfahrungen und sprachlichem und kulturellem Fachwissen begriffen, das genutzt werden kann und soll. PädagogInnen erhalten methodische Anleitungen zur Umsetzung interkultureller Gesprächsführung bei Aufnahme- und Tür-und-Angel-Gesprächen, für Gruppenarbeit und thematische Elternabende. Die Autorin macht Mut neue Wege zu gehen und den Dialog zwischen deutschen und zugewanderten Eltern zu fördern.“

 

„Was im Leben wirklich zählt – Mit Kindern Werte entdecken“ von Susanne Stöcklin-Meier. Erschienen bei Kösel.

„Nach einem Streit den ersten Schritt zur Versöhnung machen. Einem alten Menschen den eigenen Sitzplatz anbieten. Sich an einem Dankeschön freuen. Eine lebenswerte Zukunft erwächst aus Kindern, die dazu fähig sind. Doch warum fällt es vielen so schwer, so zu handeln? Vielleicht weil Erwachsene oft über Werte reden, statt sie vorzuleben und kindgerecht zu vermitteln: Aufrichtigkeit zum Beispiel, Hilfsbereitschaft oder Toleranz.

Die renommierte Schweizer Autorin Susanne Stöcklin-Meier zeigt, dass Werte etwas ganz Konkretes sind. Dass ein eigenes Blumenbeet mit Liebe und Verantwortung zu tun hat. Dass schon Vierjährige herausfinden können, warum Gewaltlosigkeit wichtig ist.

Berührendes Erziehungslesebuch, inspirierender Ideenschatz und mutige Zukunftsvision in einem: Wenn Mütter, Väter, Großeltern, Erzieherinnen, Lehrer, Kinderpsychologen, Bildungsfachleute und Familienpolitiker in diesem Herbst nur ein einziges Buch lesen – dann sollte es dieses sein.“

 


*1 vgl. https://dejure.org/gesetze/GG/6.html (28.04.2016)
*2 https://dejure.org/gesetze/GG/6.html (28.04.2016)
*3 vgl. http://lexetius.com/BGB/1627,3 (28.04.2016)
*4 https://dejure.org/gesetze/BGB/1631.html (28.04.2016)
*5 http://lexetius.com/BGB/1631,6 (28.04.2016)
*6 vgl. ebd.
*7 vgl. http://lexetius.com/BGB/1631,5 (28.04.2016)
*8 vgl. http://lexetius.com/BGB/1631,4 (28.04.2016)
*9 vgl. http://www.kinderschutz-in-nrw.de/fuer-erwachsene/gesetzliche-grundlagen/geschichte-der- kinderrechte.html (29.04.2016)
*10 vgl. https://www.unicef.de/informieren/infothek/-/konvention-ueber-die-rechte-des-kindes/17528 (28.04.2016)
*11 vgl. ebd.
*12 http://www.juraforum.de/lexikon/kindeswohl (28.04.2016)
*13 vgl. http://www.abraham-maslow.de/beduerfnispyramide.shtml (19.05.2016)
*14 http://www.kindergartenpaedagogik.de/1101.html (28.04.2016)
*15 http://www.rechtsfragen-jugendarbeit.de/kindeswohlgefaehrdung-ueberblick.htm (28.04.2016)

 

 

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